
Als Student aus Deutschland hat man hier in Tokio mit einigen Problemen zu kämpfen. Der morgendliche Pendlerverkehr ist davon bestimmt das nervigste Problem. Es ist vor allem ziemlich unumgänglich. Wenn man pünktlich in die Uni kommen möchte, muss man sich jeden Morgen aufs neue in den Zug zwängen und dort, eingequetscht zwischen schniefenden und hustenden, teils übel riechenden Anzug-Herren eine halbe Stunde ausharren. Von dort geht es in das Gedränge des Bahnhofs Shinjuku, um pünktlich den Zug zu erwischen, der einen dann zur Uni bringt.
In der Metropolregion Tokio wohnen ca. 34,5 Millionen Einwohner. Und es scheint, als würden die bei der morgendlichen Rush-Hour alle durch diesen Bahnhof wirbeln. Nach Angaben des japanischen Verkehrsamtes, steigen in Shinjuku, pro Tag im Durchschnitt etwa 2,3 Millionen Fahrgäste ein oder aus – in der Stoßzeit am Morgen verdichtet sich das auf etwa 500 Menschen, die pro Sekunde auf den ca. dreißig Bahnsteigen ein oder aussteigen. Das sorgt für ein erhebliches Gedränge auf den Gleisen, Rolltreppen und in den Schalterhallen. Um hier in den nächsten Zug umzusteigen, muss ich aus dem Zug raus, zum nächsten Aufgang laufen, die Treppe raufsteigen, durch die Bahnhofshalle hetzten, mich durch die Durchgangssperren quetschen, auf den nächsten Bahnsteig runter laufen um mich für den nächsten Zug anzustellen. Dabei achte ich nur darauf, niemandem über den Haufen zu rennen oder jemanden auf mich auflaufen zu lassen. Dabei ist die richtige Schrittgeschwindigkeit sehr wichtig. Ansonsten haste ich durch den Bahnhof, möchte möglichst schnell weiter, ohne nach links und rechts zu schauen. Ich gebe mich eher einem Fluss von Menschen hin, als dass ich selbst irgendwie agieren würde. Von weit oben sieht das bestimmt aus wie ein Ameisenhaufen - das reinste Chaos. Aber alles fließt und scheint irgendwie organisiert vor sich zu gehen.
Ortswechsel in ein ruhiges Viertel, außerhalb der Bahnhöfe, der Schaltzentralen des hektischen Pendlerverkehrs. Die Menschen kommen von der Arbeit nach Hause, kaufen hier und da noch etwas ein, telefonieren oder spazieren durch den Park. Eine alltägliche Szene, die mir viel weniger fremd erscheint als das morgendliche Bahnhofs-Chaos. Dennoch ist etwas fremd. Es ist der Linksverkehr. So schnell gewöhne ich mich da nicht dran. Ich gehe auf der falschen Straßenseite, Autos kommen mir in entgegengesetzter Fahrtrichtung entgegen. Bei den engen Straßen der Wohnviertel ist das schon mal beängstigend. Beim abendlichen Joggen werde ich fast überfahren. Um hier nicht in permanenter Lebensgefahr herumzulaufen, muss ich schon aufpassen und ziemlich aufmerksam sein. Aber warum ist das so? Warum will ich mich nach nur mehr anderthalb Monaten nicht daran gewöhnen und muss mich permanent an die andere Verkehrsrichtung erinnern um nicht über den Haufen gefahren zu werden?
Eine vergleichsweise harmlose Form eines Unfalls geschieht besonders häufig, wenn ich auf dem abendlichen Heimweg gedankenverloren durch die Straßen streife oder im Supermarkt durch die Regale schlendere. Plötzlich steht ein Japaner vor mir und es passiert etwas, was wohl jeder irgendwie kennt. Ich will intuitiv rechts vorbei, der Japaner will einen ebenso unbewusst links passieren. Beim zweiten Versuch wählen beide die jeweils andere Seite, mit dem gleichen Resultat. Dies geht so lange, bis einer abwartet und dem anderen den Vortritt lässt. Es ist möglicherweise nur meine persönliche Wahrnehmung, aber irgendwie scheint mir dieses Problem hier in Tokio häufiger vorzukommen. Warum ist das so? Woran liegt das?
Ebenso wie dem Pendlerchaos liegt diesem Problem menschlichen Zusammenlebens eine Systematik zu Grunde, für die ich eine fachliche Erklärung parat habe. Dafür muss ich zwar tief in die Kiste des soziologischen Grundwissens, aus der Frühphase meines Studiums greifen, aber es ist erstaunlich wie leicht das fällt, wenn man ein lebensweltliches Problem darauf anwenden kann. Der Pendlerverkehr im Bahnhof, meine Probleme mit dem Linksverkehr auf der Straße und die Häufigkeit von Zusammenstößen mit Japanern im Supermarkt sind nicht rein zufällig. Sie haben ein System und haben spezifische Folgen, die soziologisch erklärt werden können. Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass das Verhalten der Menschen in diesen Situationen berechenbar ist. Im Fachausdruck: Das Verhalten ist nicht kontingent.
Kontingenz beschreibt eigentlich nur die mögliche Andersartigkeit von Dingen. Alles ist demnach kontingent, kann anders sein als wir es wahrnehmen. Zum Beispiel das Wetter: Es kann regnen, schneien, windig oder sonnig sein. Das ist an sich nichts Besonderes. Kontingenz erhält dann Bedeutung, wenn man versucht sich an einem der möglichen Zustände zu orientieren und sein Verhalten von einem bestimmten Zustand abhängig macht. So, wie wenn wir morgens aus dem Fenster gucken und Wolken am Himmel sehen. Dann wissen wir, dass es Regnen könnte und planen entsprechend. Wir nehmen einen Schirm mit, legen regenfeste und warme Kleidung an und so weiter.
Spannend wird an Kontingenz orientiertes Verhalten erst in sozialen Situationen. Also dann, wenn mindestens zwei Personen anwesend sind und sich wahrnehmen können. In den beschriebenen Situationen, im Bahnhof, auf der Straße und im Supermarkt ist das der Fall. Kontingenz ist in sozialen Situationen deswegen so spannend, weil nun zwei Variablen auftreten. War die Wahl meiner Kleidung für einen wolkenreichen Tag, einseitig vom Blick in den Himmel abhängig, so kann in sozialen Situationen Verhalten wechselseitig voneinander abhängig gemacht werden.
Man stelle sich vor, dass zwei Personen (A und B) das Erscheinen auf einer Party voneinander abhängig machen, aber nicht wissen wie der andere Handelt. Vereinfachend wird angenommen, dass das Verhalten des jeweils anderen ausschließlich von dem des Anderen abhängt. Andere Dinge spielen keine Rolle. Weder das Wetter noch die Musik oder ob andere Gäste kommen. Des Weiteren ist es unwichtig, ob es um Erscheinen oder Abwesenheit geht. Solange A nicht weiß was B macht, kommt es zu keiner Entscheidung. Ein Handlungsdilemma, aus dem es ohne Hilfe keinen Ausweg gibt.
Theoretiker sehen eine Lösung dieses Problems sozialer Systeme in Organisationen. Diese funktionieren häufig formal, entsprechend einer definierten Ordnung, ohne Ansehen der Person, sozusagen nicht-sozial. Irgendwo ist schriftlich fixiert, dass A oder B auf der Party zu erscheinen haben. Sobald dies beiden bekannt ist, bekommt die Sache Schwung. Zum Beispiel geht Person A, weil sie weiß, dass B wegen beruflichen Verpflichtungen kommen muss. Daneben ist es auch vorstellbar, dass beide Personen sich innerlich verpflichtet fühlen, zu erscheinen. Etwa weil beide Person C gut kennen und von seinem Wunsch wissen, sie beide auf der Party zu begrüßen. Die Grundlage dieser inneren Verpflichtung sind Werte, bzw. die nicht hinterfragte Einsicht, dass man dem Wunsch der Einladung folgen soll. In der Fachsprache bezeichnet der Begriff Sozialisation den Prozess, durch den sich diese Verinnerlichung von Werten und Normen vollzieht.
Beide Lösungsansätze basieren auf Regeln – Regeln die in einem Fall aus formaler Organisation, im anderen auf Sozialisation und verinnerlichten Werten resultieren. Das was im Bahnhof höchst chaotisch anmutet, hat ebenfalls ein System, welches auf Regeln basiert. Und schon nähern wir uns der soziologischen Erklärung der dargestellten Probleme.
Die Strategie des reibungslosen Passierens im Bahnhof besteht darin, nicht auf Andere zu achten, einfach nur seinen eigenen Weg zu verfolgen. Jeder windet sich bestmöglich durch das Gewimmel, aber ohne den Kopf zu heben und nachzusehen, wo der Weg frei ist, sich eine Lücke zeigt. Jeder Passant bahnt sich, wie mit Scheuklappen, seinen Weg durch die Menge. Das Verhalten ist somit nicht kontingent, sondern in besonderem Maße berechenbar. Solange man seinen Weg kennt und die richtige Geschwindigkeit wählt, funktioniert das ganz prima. Versucht man aber auszuweichen oder durch Blickkontakt herauszufinden wo der nächste Passant wohl lang möchte oder bleibt sogar stehen, wird das System gestört. Dies verunsichert die anderen Passanten, sie wollen ihrerseits ausweichen und es kommt zu Zusammenstößen. Schon so mancher Westler hat dieses sensible System gestört, etwa indem er auf Andere warten wollte oder stehenblieb, um Fotos zu machen. Nur Anpassung führt hier zum Erfolg. Mache es so wie alle und auf keinen Fall anders. Dieser Imperativ verhindert das Auftreten kontingenten Verhaltens und sorgt so für ein reibungsloses und schnelles Passierverhalten in den großen, umtriebigen Bahnhöfen Japans und der Welt.
Die Situation im Supermarkt, der Zusammenstoß zwischen dem Japaner und mir, stellt ein sehr prägnantes Beispiel doppelter Kontingenz dar. Kontingent ist die Situation, solange weder ich, noch der Japaner ein Zeichen geben, an welcher Seite man vorbei möchte. Das jeweils andere Verhalten ist also prinzipiell kontingent. Es ist eine Variable mit den zwei gleich wahrscheinlichen Ausprägungen, links und rechts. Es ist wohl jedem schon einmal passiert. Der Grund warum es hier so häufig passiert, hängt eng mit meinem Problem zusammen, das ich mit dem Linksverkehr habe. Sie findet sich im Konzept der Sozialisation bzw. der Gewöhnung an Zustände. Warum ich beim Joggen fast über den Haufen gefahren werde, liegt daran, dass ich mich Zeit meines Lebens an den deutschen Rechtsverkehr gewöhnt habe. Mehr noch, als Kind wurde ich ständig ermahnt, vor dem Betreten der Straße nachzuschauen, ob sich ein Auto nähert: Erst links, dann rechts und dann wieder links. Der Gewöhnung ging sogar eine systematische Erziehung voraus. Nun weiß so ziemlich jeder, dass Erziehung nicht immer ihren Zweck erfüllt, sogar unbeabsichtigte Folgen haben kann. Zugegeben ist mein Beispiel nicht wirklich dazu geeignet, dies zu beweisen. Dennoch reise ich mit dem anerzogenen Wissen und dem Leitsatz „Links, rechts, links“ im Kopf, nach Japan und schon kehren sich die gutgemeinten Ratschläge ins Entgegengesetzte. Und so laufe ich Gefahr, unliebsame Bekanntschaft mit der Haube eines japanischen Kleinlasters zu machen. Egal wie häufig ich darauf aufmerksam gemacht werde, dass Autos von rechts und eben nicht von links angerast kommen können. Wenn ich mich gedankenverloren oder im Laufmodus einer Straße nähere, schaue ich intuitiv nach links und dann erst nach rechts. Jahrelange Gewöhnung und Erziehung, also Sozialisation, wirft man nicht auf einmal über den Haufen, auch wenn man dreimal fast überfahren wird. Darin gleichen sich die Menschen, ob Links- oder Rechtsverkehr herrscht.
Und die Strukturierung des Verkehrs hört nicht beim Straßenverkehr auf, sondern zeigt sich auch in Situationen wie dem oben beschriebenen Handlungsdilemma zwischen dem Japaner und mir im Supermarkt. Die Organisation des Verkehrs, die Fahrtrichtung, wird auch zum sozialen Konsens der Passanten: In Deutschland geht man, in der Regel rechts an Entgegenkommenden vorbei, in Japan macht man es umgekehrt. Diese Steuerung reduziert die Kontingenz des Verhaltens des jeweils Anderen auf ein Minimum. Da wir durch dieses unbewusste Passierverhalten zuverlässig gesteuert werden, kommt es unter uns doch recht selten zum oben beschriebenen Problem. Da die Japaner sich jedoch ein anderes Passierverhalten angewöhnt haben, eines das genau umgekehrt funktioniert als unseres, kommt es überdurchschnittlich häufig zu Zusammenstößen. Dies ist die soziologische Erklärung. Die Sozialisation des Verkehrs hält sich vorerst hartnäckig. Solange ich mich nicht anpasse, wird es auch weiterhin zu Zusammenstößen kommen. Aber eben auch, wenn ich als angepasster Westler auf einen Japaner treffe, der mein sozialisiertes Passierverhalten antizipiert und berücksichtigt. Dann ist alle Mühe vergebens. Das Problem tritt erneut auf.
Tokio ist angesichts der Enge der Straßen und der Menge der Menschen ein gutes Pflaster dieses alltägliche Problem zu erforschen und selbst zu erleben. Ich find´s irgendwie interessant. Jedenfalls war es mir wert diesen Abend damit zu verbringen, Euch dieses Problem näher zu bringen. Glaubt mir, das lässt einen wirklich nicht los. Gute Nacht!
Preisfrage: Was passiert denn, wenn ein Japaner der gerade aus seinem deutschen Exil zurückgekehrt ist, auf einen Deutschen trifft, der sich dank eines jahrelangen Aufenthaltes in Japan, an den Rechtsverkehr allmählich gewöhnt hat. Wie bisher werden Antworten als Kommentare gerne angenommen. Wer schnell ist, gewinnt.